Der große Wald südlich Fuhlendorf, das Barther Stadtholz, umfasst nicht nur 457 Hektar eines artenreichen, wunderbaren Waldes, sondern auch etliche Geheimnisse.
Aus alten Zeiten stammt zum Beispiel die Wundereiche, deren Besuch Heilung bei fast allen Gebrechen versprach, bis ein Schäfer seinen kranken Hund durch die wundertätige Astöffnung schob und so – es war angedroht worden – den Zauber zum Erliegen brachte.
Weniger romantisch und gar nicht märchenhaft, sondern eher Schrecken erregend sind die im Wald verborgenen Überreste einer riesigen Rüstungsfabrik aus der Zeit des National-sozialismus, die Trümmer der Pommerschen Industriewerke, sowie die ehemaligen Stellungen der Flugabwehr-Raketenabteilung 4322 der NVA aus der Zeit des Kalten Krieges.
Die Pommerschen Industriewerke produzierten zwischen 1939 und 1945 im Stadtholz westlich Barth Munition, unter anderem Granaten, deren chemische Füllung künstlichen Nebel erzeugte. Für den Sommer 1943 wurde die Zahl der Beschäftigten mit 3685 angegeben; davon war die Mehrzahl, ca. 2700, Ostarbeiter, d.h. Menschen, die vor allem in der Ukraine und Weißruthenien als Zwangsarbeiter rekrutiert, sprich nach Deutschland verschleppt worden waren. Sie „wohnten“ im Lager Barth-Holz. Das große, im Wald versteckte Areal mit Bahnanschluss, Fabrikhallen und Bunkern wurde 1945 von der Roten Armee gesichert, die Anlagen demontiert und abtransportiert, die Gebäude gesprengt. Seitdem erobert die Natur das Gebiet. Da im Waldboden Munitionsreste oder Chemikalien lagern können, ist das Gebiet gesperrt, wird aber dennoch immer wieder betreten.
Wesentlich jüngeren Datums und deutlich näher an unserem Dorf – etwa 2 Kilometer Luftlinie direkt südlich der Ortslage – sind die Überreste der Flugabwehrraketenabteilung noch auffindbar, die in den 60er Jahren entstand. Sie wurde nach der Wende weitgehend abgeräumt und zugeschüttet
Von dieser ehemaligen Raketenstellung soll im Folgenden genauer die Rede sein, weil ich bei meinen Hundespaziergängen im Wald immer wieder von Wanderern oder Radfahrer angesprochen werde, die sich auf der Suche nach den wenigen Überresten der Flugabwehrstellung ein wenig verlaufen haben.
Wo lag die Flugabwehr-Raketenabteilung 4322 Fuhlendorf genau?
Der ursprüngliche Hauptzugang erfolgte von Osten. Wenn man von Fuhlendorf aus der L 211 Richtung Barth folgt, biegt man in der weiten Linkskurve in Höhe Drei Katen nach rechts ab, folgt dem Richtungsanzeiger Nikolajew-Siedlung. Man erreicht sie nach ca. 2 Kilometer. Von dort aus folgt man zu Fuß oder mit dem Fahrrad dem Waldweg in westliche Richtung ca. 1500 m.
Der zweite Zugang erfolgte von Westen. Verlässt man Fuhlendorf ebenfalls auf der L 211 in westliche Richtung, zweigt hinter dem Ortsausgang vor der Ortslage Hermannshagen-Heide rechts die Straße nach Michaelsdorf und Neuendorf ab. Nach links folgt man zu Fuß oder mit dem Fahrrad dem Waldweg in östliche Richtung und gelangt nach ca. 1000 m zu den zentralen Resten der Raketenstellung. In Hermannshagen-Heide existierte ein Hubschrauberlandeplatz der zur FRA 4322 Fuhlendorf gehörte.
Aus welchen baulichen Einrichtungen bestand die Flugabwehr-Raketenabteilung 4322 Fuhlendorf?
Man kann drei Objektteile unterscheiden:
Objekt A steht heute noch und heißt immer noch Adrian-Nikolajew-Siedlung. Vier Wohnblöcke mit kohlenbeheizten kleinen Wohnungen dienten als Unterkunft für die Offiziersfamilien. Diese Häuser wurden im Laufe der Jahre durch landestypische Garagen ergänzt, die heute völlig verfallen sind. Die ursprünglich vorhandene Bushaltestelle wird natürlich auch nicht mehr angefahren. Die Wohnblocks verfielen in den vergangenen 35 Jahren zusehends, waren aber nie ganz unbewohnt. Inzwischen werden sie tief im Wald restauriert. Wer da mit welchem Ziel und welcher Baugenehmigung da tätig ist, erscheint schon ein wenig rätselhaft.
Das Objekt B lag bereits im gesicherten, umzäunten Bereich der Anlage. Wo heute nur ein unscheinbarer Waldweg erkennbar ist, war ein Schlagbaum zu passieren und nach einer geschwungenen Kurve stieß man auf eine komplette kleine Kasernenanlage mit einem „KDL“ (Kontrolldurchlass) am Eingang. Es folgten die Unterkunftsgebäude für Soldaten und Unteroffiziere, die Küche, der Med-Punkt, die Speiseräume, ein Verkaufsraum der Militärhandelsorganisation (MHO), eine Friseurstube, schließlich das Stabsgebäude und der Bereich des Fuhrparks. Von diesem Kasernenbereich ist so gut wie nichts erhalten. Die Abrissarbeiten waren so gründlich, dass außer einigen Trümmern wie die Reste einer Zisternenöffnung kaum Relikte zu erkennen sind.
Militärisch noch einmal abgesichert folgte das Objekt C, der eigentliche militärische Kern, d.h. die Feuerstellung der Raketen, die aus einer Startbatterie sowie 6 Startrampen bestand, die in einer typischen Sechseckform angeordnet waren. In der Mitte befand sich ab Ende der 60-er Jahre eine Leitstation mit Radar, Rechner, Sender, Empfänger. Höchstes Bauwerk war seitwärts der Feuerstellung ein hoher Bunker des Typs MB1, in dem die 30 Raketen der Abteilung gelagert wurden. Vor ihm existierte eine Einrichtung zum Betanken der Raketen. Schließlich gab es in diesem Bereich mehrere Kleinbunker des Typs FB3 für jeweils 6-8 Soldaten. Dieser Bereich lag ca. 2000 Meter westlich der Objekte A und B.
3. Welche Raketen waren in der Anlage stationiert?
Die Flugabwehr-Raketenabteilung Fra-4322 war in den 60er und frühen 70er Jahren mit dem Flugabwehrraketenkomplex S-75 Dwina, später S-75 Wolchow bewaffnet. Sie konnte mit einer Reichweite von knapp 30 Kilometern Ziele bis in 37 Kilometer Höhe bekämpfen, wurde über Funkbefehle gesteuert, flog mit dreifacher Schallgeschwindigkeit und brachte am oder in der Nähe des Zieles 190 kg Sprengstoff zur Explosion. Diese Rakete wurde in den 50er Jahren in der Sowjetunion entwickelt. Sie war etwa 10 Meter lang, hatte einen Durchmesser von ca. 50 cm und ein Gewicht von über zwei Tonnen.
Die S-75 war eine zweistufige Rakete. Ihre erste Stufe war ein Feststoffbooster, der mit einem elektrischen Impuls gezündet wurde. Die zweite Stufe bestand aus einem Flüssigtreibstoff-Raketentriebwerk. Der Treibstoff bestand aus zwei Komponenten, einmal dem eigentlichen Treibstoff, Kerosin mit Trikresol, sowie dem für die Verbrennung notwendigen Oxydator, ein Gemisch aus Distickstofftetroxid und Salpetersäure. Gelagert wurden diese extrem giftigen Chemikalien in großen Erdtanks. Eine Betankung der Raketen erfolgte unter Vollschutz und war nicht rückgängig zu machen. War eine Rakete betankt, musste sie in einem gewissen Zeitraum auch verschossen werden. Aus diesem Grund ist davon auszugehen, daß das Tanktraining in den Abteilungen vermutlich als Trockentraining ohne reale Betankung durchgeführt wurde. Soweit ich weiß, wurde vom Territorium der DDR niemals auch nur eine S-75 verschossen. Das Training mit scharfem Schuss wurde auf dem Schießplatz Ashuluk in der Sowjetunion durchgeführt.
Eine Flugabwehrrakete dieses Typs schrieb Geschichte, als mit ihrer Hilfe am 01.05.1960 ein amerikanisches Spionage-Flugzeug vom Typ U2 über Swerdlowsk (Jekaterinburg) abgeschossen wurde. Bis zu diesem Tag hatten die Amerikaner geglaubt, daß der in etwa 20.000 Meter Höhe fliegende, mit speziellen Kameras ausgerüstete einsitzige Jet für die sowjetischen Flugabwehr unerreichbar sei.
Diese U2 war in Nordpakistan gestartet und sollte im Rahmen der „Operation Overflight“ u.a. Stellungen von Interkontinentalraketen erkunden. An diesem Tag aber wurde das Flugzeug von Splittern von vermutlich zwei S-75 Sprengköpfen getroffen und zum Absturz gebracht. Der Pilot, Gary Powers, überlebte und berichtete später, daß seine Beine eingeklemmt gewesen seien und er deshalb den Schleudersitz nicht hätte betätigen können. Durch das Entfernen der Cockpithaube und eine Drehung des Flugzeugs um dessen Längsachse konnte er sich, unterstützt durch die Erdanziehungskraft, aus dem Flugzeug befreien. Laut eigenen Aussagen wurde er bei dem Sturz mehrmals ohnmächtig, bis sich in einer Höhe von etwa 4500 Metern der Fallschirm automatisch öffnete. Er wurde gefangen genommen. In dem folgenden, unter großem internationalen Medieninteresse durchgeführten Prozess wurde Powers zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt.
Der Abschuss der Maschine sowie die Gefangennahme und Verurteilung des Piloten wurden von den USA als empfindliche Niederlage betrachtet. Nach der anfänglichen Darstellung der USA, es habe sich um ein Wetterflugzeug gehandelt, gestand US-Außenminister Christian Herter am 9. Mai 1960, dass derartige Spionageflüge über der Sowjetunion bereits seit dem Juli 1956 stattgefunden hatten. Am 11. Mai 1960 übernahm US-Präsident Dwight D. Eisenhower, der jeden einzelnen Flug der U-2 vorher genehmigt hatte, die volle Verantwortung, lehnte aber die Forderung des sowjetischen Ministerpräsidenten Nikita Chruschtschow ab, sich für den Luftzwischenfall zu entschuldigen, die Verantwortlichen zu bestrafen und die Spionageflüge einzustellen. Die Folge war das Scheitern der Pariser Gipfelkonferenz zur Regelung der Berlin-Frage und einer geplanten Besuchsreise Eisenhowers in die Sowjetunion. Im Kontext der Kubakrise wurde am 27. Oktober 1962 eine U-2 ebenfalls durch eine Flugabwehrrakete S-75 Dwina abgeschossen. Der Pilot starb.
Im Zuge der technischen Entwicklung bzw. der kontinuierlichen Hochrüstung beider Seiten im Kalten Krieg wurde die S-75 Rakete in den 70er Jahren durch das System 125 Newa, in den 80-er Jahren durch die S-200 Wega und – kurz vor der Wende – durch das System S-300 ersetzt. Die neueren System waren Feststoffraketen, mussten also nicht mehr betankt werden, waren mobil, besaßen eine höhere Treffergenauigkeit, einen größeren Schutz gegen elektronische Gegenmaßnahmen und konnten auch gegen Marschflugkörper und ballistische Raketen eingesetzt werden. Mit einem Wort: sie waren noch tödlicher.
4. In welchen größeren militärischen Kontext gehörte die Raketenstellung?
Zu einer Fla-Raketenabteilung gehörten ca. 130 Soldaten: Die meisten waren Spezialisten, d.h. länger dienende, speziell ausgebildete Soldaten, aber auch Wehrpflichtige leisteten in dieser Einheit ihren Dienst.
Natürlich war die Raketenstellung im Barther Stadtholz, die im Verlauf der Jahrzehnte im Rahmen militärischer Umorganisationen ihre Bezeichnung wechselte (FRA 182, FRAU 432, FRAU 4322), Teil eines größeren militärischen Verbandes.
Sie gehörte zur 43. Fla-Raketenbrigade „Erich Weinert“, die in Sanitz stationiert war. Ihr Auftrag war, den Luftraum des Nordens der DDR, insbesondere den Industrie- und Hafenstandort Rostock und den vorgelagerten Ostseeraum gegen Flugzeuge, später auch gegen Marschflugkörper und ballistische Raketen zu schützen.
Die 43. Fla-Raketenbrigade -sie war selbst Teil der 3. Luftverteidigungsdivision – verfügte über folgende Einheiten in den Orten:
Cammin OT Prangendorf (FRAG-431)
Abtshagen (FRA-4321)
Fuhlendorf (FRA-4322)
Hinrichshagen (FRA-4323)
Retschow (FRA-4324)
Neuenkirchen (FRA-4325
Barhöft (FRA-4331)
Nienhagen (FRA-4332)
Kägsdorf (FRA-4333)
Kirchdorf (FRA-4334)
Dranske (FRA-4335)
Die Funktechnische Abteilung 4301 (FuTA-4301) war in Rövershagen und die Technische Abteilung 4320 (TA-4320) beim Brigadestab in Sanitz stationiert.
5. Lohnt sich eine Suche nach den Überresten im Wald?
Einmal abgesehen von der wundersam einsam gelegenen Adrian-Nikolajew-Siedlung, die zu neuem Leben erweckt wird, gibt es von den ursprünglichen militärischen Anlagen nur noch wenige Überreste zu sehen. Sie wurden weitgehend abgeräumt oder verfüllt. Am ehesten erkennt man noch Bunkerreste im Bereich der ehemaligen Feuerstellung tief im Wald. Aber auch hier holt sich die Natur zurück, was ihr einst allein gehörte. Es ist vielleicht die Aura des Geheimnisvollen, eins Gefahrvollen, die doch erstaunlich viele Menschen dazu bringt, sich auf die Suche zu begeben. Und um Legendenbildungen vorzubeugen, ist es vielleicht gut, aufzuschreiben, was dort war und was dort nicht war und was dort nicht mehr ist.
Was bleibt und Wanderungen in jedem Fall lohnt ist ein wunderbarer großer stiller Wald. Neben eindrucksvollen Beständern verschiedener Kiefernarten trifft man auf Stieleichenbestände, Erlen- Eschenwald und Feuchtgebiete mit Quellmooranteilen.
Nicht ganz so großartig finde ich die Berichte, daß inzwischen zwei Wolfsrudel im Stadtforst leben sollen. Aus verschiedenen Gründen kann ich die Begeisterung der Wolfs-Schützer nicht teilen. Erfreulicherweise sind diese Tiere mir jedoch bisher nicht begegnet. Weitere Fotos des Lost places findet man im Netz unter:
https://lostplacewunderland.wordpress.com/2020/02/08/nva-fra-4322-barth/
und zusätzliche Informationen in gedruckter Form:
Bernd Biedermann, Siegfried Horst: Die Fla-Raketentruppen der Luftverteidigung der DDR. Geschichte und Geschichten. Steffen Verlag, Friedland 2010











